Infrastruktur: Ist die Badewanne halb voll oder halb leer?

Wie alt darf Infrastruktur eigentlich sein? Wann ist es sinnvoll zu modernisieren? Die Badewanne ist in der Branche in aller Munde. Sie beschreibt Kosten – in anderen Varianten auch Fehlerraten – von Betriebsmitteln im Laufe der Zeit.Betriebsmittel werden gebaut und durchleben ihre teuren Kinderkrankheiten, um dann einige Zeit zuverlässig zu schuften und im Alter immer betreuungsintensiver zu werden. Im Grunde wie bei jedem einzelnen von uns. Und wie bei jedem von uns lässt sich auch die individuelle Entwicklung nicht voraussagen. Während der eine schon mit 60 am liebsten das Haus nicht mehr verlässt, fährt die andere auch noch mit 90 fröhlich auf dem Fahrrad.

Die Diskussion um die Bütt ist vielseitig

Im Gegensatz zum heimischen Badezimmer wirkt die Badewanne in der Infrastruktur selten entspannend, denn das Ende naht… Das Ende der Badewanne naht sogar so sehr, dass sich viele Infrastrukturbetreiber damit trösten, die berühmte Badewannenkurve sei erstens nur ein theoretisches Konstrukt und man kenne zweitens zwar den Anfang, nie aber das Ende. Außerdem hat man in der Praxis das Ende bisher auch nie erreicht – der Ersatzinvestition sei Dank!

Die Diskussion um die Bütt ist vielseitig und vor allem akademisch. Es gibt zudem eine Vielzahl von Anbietern auf dem Markt, die wahre Wunder versprechen. Vom IT-Anbieter bis zum Hochschulprofessor gibt es sicher einige gute bis sehr gute Ansätze, vor allem aber jede Menge Scharlatane, die ihr Geld besser mit Handlesen auf dem Jahrmarkt verdienen würden. Viele Infrastrukturbetreiber lassen sich hiervon – mit Recht – abschrecken.

Die Alterung von Infrastruktur noch besser verstehen

Andererseits ist es enorm wichtig, die eigenen Betriebsmittel besser kennen zu lernen, Alterung noch besser zu verstehen, Ausfallrisiken genau einzuschätzen und Schadensausmaße bestimmen zu können. Planungsmethoden wie zustands-, risiko-oder wertorientierte Instandhaltung bieten Möglichkeiten enormer Einsparungen bei gleichzeitiger Qualitäts- und Leistungssteigerung.

Da ohne Alterungsmodelle kein zukunftsfähiges Infrastrukturmanagement denkbar ist, beschäftige ich mich mit verschiedenen Modellen. Hierzu tausche ich mich ständig mit Herstellern, Universitäten, Dienstleistern und Anwendern aus. Kein Modell stellt mich vollumfänglich zufrieden. Um künftig richtige Investitions- und Instandhaltungsentscheidungen zu treffen, sind verschiedene Formen der Alterung zu kombinieren.

Das technische Alter

Unsere Infrastruktur ist, technisch gesehen, vielfach vor dem Schritt aus dem Erwerbsleben ins Rentenalter. Viele Betriebsmittel aus der Etappe des massiven Ausbaus zwischen den 60er- und 80er-Jahren befinden sich in der späten Phase ihrer technisch-wirtschaftlichen Lebensdauer. Bei Fortschreibung der Anschaffungskosten mit anlagengruppen-spezifischen Preisindizes ergeben sich erforderliche Investitionen, die signifikant höher sind als die aktuell bilanzierten Buchwerte. Das bestreitet niemand.

Das technologische Alter

Natürlich kann man Betriebsmittel sehr lange sinnvoll betreiben. Neue Besen kehren nicht immer gut. Der Asset Manager des mittelenglischen Kanalsystems sprach mit mir über jahrhundertealte Assets, deren Hauptnutzen nicht mehr im Verkehr, sondern im Denkmalschutz liegen. Andererseits fehlen mir in vielen Alterungsmodellen die entgangenen Kosteneinsparungen, wenn zum falschen Zeitpunkt (zu früh, oder zu spät) auf verbesserte Technologie gewechselt wird.

Die Alterung der Bedarfsdeckung

Mitten im Zweiten Weltkrieg entstanden in Europa erste Konzepte für den Wiederaufbau; bis Ende der 50er bestimmten diese die tatsächlichen Planungen. Viele Konzepte haben sich überlebt, von der autogerechten Stadt möchten heute nur noch wenige etwas wissen. Mit der Wohlstandsgesellschaft entstanden neue Strukturen – so boomten bspw. Eigenheimsiedlungen. Unsere Infrastruktur ist auf diese Zersiedlung ausgerichtet und muss sich an die wachsende Landflucht anpassen. Zugleich ändert sich der individuelle Bedarf. Wir wollen grüne, dezentrale Energie, immer mehr kommunizieren und schneller reisen.

In vielen Alterungsmodellen fehlt das „Altern der Bedarfsdeckung“. Auch technisch „neue“ Betriebsmittel können schon sehr schnell alt sein. Sie verursachen Aufwand, weil sie alte Strukturen zementieren. Würde man Infrastruktur heute nach heutigem Bedarf auf der grünen Wiese planen, wäre sie vielleicht besser und billiger. Diese Strukturkosten verschieben das Wannenende nach links oder rechts.

Die Alterung der Bedienbarkeit

Das Berufsbild des Meisters und Monteurs hat sich stark verändert – und das Ende der Fahnenstange ist genauso unsichtbar wie das der Wanne. In der heutigen Berufsausbildung wird viel mehr Wert auf technisches Gesamtverständnis gelegt und die Nutzung von IT-Unterstützung in der Fläche ist selbstverständlich geworden. Kein Monteur ist heute noch ohne Laptop oder Tablet unterwegs. Dafür setzt heutige Instandhaltung mehr auf den Ersatz als auf die Instandsetzung einzelner Komponenten. Je exotischer alte Betriebsmittel für den Monteur sind, desto höher wird sein Wartungsaufwand. Diese Kosten gehören in die Badewanne.

Die Reife der Erkenntnis

Ingenieure lieben Zahlen – und das nicht einmal zu unrecht. Fast alle Alterungsmodelle bauen heute auf demografischen Informationen der Betriebsmittel auf: Baujahr, Störungsanzahl, Temperatur, Belastungsstunden. Die besten verfügbaren Alterungsmodelle sind aber nicht in unseren IT-Systemen, sondern im Erfahrungsschatz der Meister und Monteure. Sie verstehen „ihre“ Betriebsmittel, genauso wie ich als Student bei einem Blick aufs Wetter wusste, ob mein altes Auto anspringt oder nicht. Künftig müssen diese wertvollen Erfahrungen vielmehr in die Bildung der Alterungsmodelle einbezogen werden. An der strukturellen Auswertung dieser wahren Erfahrungsschätze arbeite ich intensiv mit meinem Team.

Das Drama der Regulierung

Viele Regulierungsmodelle setzen falsche Anreize. So sinnvoll eine Anreizregulierung ist, so kontraproduktiv ist oft die Ausgestaltung im Detail. Im deutschen Energiemarkt werden Investitions- und Instandhaltungskosten unterschiedlich bewertet. Überspitzt gesagt leben deutsche Netzbetreiber nur von ihrem Kapital, aber nicht von der guten Instandhaltung ihrer Monteure. Es gibt Anreize, Ersatzinvestitionen frühestmöglich zu tätigen. Das ist falsch. Privat macht das keiner. Niemand ersetzt eine brennende Glühlampe, nur weil sie das auf der Verpackung angegebene Lebensalter überschritten hat. Alterungsmodelle müssen in die Regulierung miteinbezogen werden.

Das immer bessere Verständnis der eigenen Betriebsmittel ist nach meiner Einschätzung entscheidend für modernes Infrastrukturmanagement. Wie leistungsfähig ist mein Betriebsmittelpark und wie gut deckt er den heutigen und künftigen Bedarf. Ohne Alterungsmodelle in Badewannenform gibt es keine signifikante Kostensenkung oder Leistungsverbesserung in der Infrastruktur.

Viele Modelle sind sehr vielsprechend. Es kommt allerdings immer darauf an, wie Sie die Modelle im richtigen Leben, im individuellen Kontext nutzen. Mit meinem Unternehmen meliorate stehe ich seit 2011 Infrastruktureigentümern und -betreibern bei diesen Fragestellungen zur Seite.

 

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